Zäsuren in
den Wirtschaftswissenschaften
Es gab einfachere Zeiten für Wirtschaftswissenschaften. Nach der
Zäsur der globalen Finanzkrise 2008 stehen weitere Paradigmen auf dem Prüfstein
wie das Phänomen der säkulären Stagnation oder die soziale Ungleichheit. Sie
haben das Potential, unser Verständnis von wirtschaftlicher Entwicklung radikal
zu verändern. Von der
Philips-Kurve über die Kuznets-Kurve und dem Okunschen Gesetz bis zur Liquiditätsfalle
und den DSGE Modellen: theoretische Konzepte der letzten Jahrzehnte gingen
davon aus, dass kritische gesellschaftliche
Parameter im Prinzip stabil sind. Dazu gehört die Höhe des
Wirtschaftswachstums, das Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit, der gesellschaftliche
Nutzen von marktwirtschaftlichen Strukturreformen und mehr. Seit dem zweiten
Weltkrieg war es in der Tat so, dass viele dieser Grundannahmen, besonders an
der technologischen Grenze, empirisch belegt werden konnten und so das
Wissenschaftsgebäude stützten.
Obwohl, bei
näherem Hinsehen gilt dies nicht uneingeschränkt. Es klaffen sogar einige
erhebliche Erklärungslücken. Um nur eine zu nennen: die Entwicklungsökonomie beschreibt eine parallele Realität, die die Mehrheit der globalen Bevölkerung umfasst.
Das führt zu dem paradoxen Resultat, dass Güter und Leistungen mit einem Ansatz
beschrieben werden, aber beim Transport über die Weltmeere auf magische Art
ihren Charakter ändern, so dass sie bei ihre Ankunft mit anderen Theorien und wirtschaftlichen
Gesetzen erfasst werden.
Allein, die USA
dominierten nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch
wissenschaftlich. Die Wertschöpfung fand vorwiegend im Westen statt und die
Konzepte, was auch immer ihre theoretische Widerspruchsfreiheit sei, machen sinnvolle und
nützliche Voraussagen. Diese praktischen Argumente lassen sich nicht von der Hand weisen. Bis heute ist weit verbreitet, dass der Westen einen Maßstab
vorgeben, des es zu kopieren gilt, um ebenfalls Wohlstand, Demokratie und
institutionelle Stabilität zu erreichen. Die Korrelation ist offensichtlich, die Kausalität nicht.
Und nun ändern
sich die globalwirtschaftlichen Fakten. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit
zu erheben, lässt sich auf folgendes verweisen:
1. Von 1870 bis zur Neuzeit waren die USA die größte Volkswirtschaft und seit etwa 1900 sind die die Speerspitze der Weltwirtschaft und bestimmen die kritische Anfangsphase von Wertschöpfungsketten. Zufall oder nicht, seit über Hundert Jahren liegt der Produktivitätszuwachs je Einwohner in den USA bei stabil knapp 2%. Diesen Pfad haben die USA mit der globalen Finanzkrise 2008 verlassen. Schlüssige Voraussagen gehen davon aus, dass sie auf diesen Pfad auch nicht zurückkehren. Die Bedeutung dieses Unterschieds von 7.3 % BIP oder 1.200 Milliarden USD ist schwierig zu überschätzen und hat – noch unbekannte - Auswirkungen für die Art und Weise des Wachstums. Wir können im Moment nur sagen, dass aus dem globalen Labor der institutionellen Innovationen andere Resultate kommen. Ein Nebeneffekt ist, dass Wachstum zu einem Thema des wirtschaftlichen Denkens wird, was es bisher de facto so nicht war.
2. Schwellen- und Entwicklungsländer holen auf. Sie erreichen inzwischen die Hälfte der globalen wirtschaftlichen Aktivitäten. China, ein postkommunistisches Entwicklungsland, zeigte zuletzt einen größeren Zuwachs als die Industrieländer zusammen genommen. Der „Rest“ kopiert in aller Regel den Westen nicht, sondern entwickelt eigenständige und innovative Lösungen, die in einer komplexen und vielfältigen Welt mit gewachsenen gegenseitigen Abhängigkeiten eingebettet sind. Damit bestätigt sich, dass in einer globalen Weltwirtschaft Innovationen auch auf den unteren Sprossenleitern der Wertschöpfung die Voraussetzung für eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung sind.
Wie das folgende Diagramm zeigt, ist die Verteilung von Aktivitäten gleichmäßiger geworden, von einem zweihöckrigem Kamel zu einem einhöckrigem Dromedar, vielleicht ein Indiz für den Abbau von politischen Hemmnissen nach der Implosion der Sowjetunion.
3. Im Vergleich zur Goldenen Ära des Kapitalismus der Nachkriegszeit ist der Nutzen des technischen Fortschritts anders und wird oft als weniger ergiebig wahrgenommen. „Wir haben Twitter anstelle von Mondsiedlungen“. Das Kohlenstoffzeitalter erreicht durch den CO2-Ausstoß und der Klimaerwärmung objektive Grenzen. Wandel tut Not. Im Unterschied zu früheren Epochen wird mit einem Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaftsweise vorerst kein zusätzlicher Wohlstand geschaffen, sondern negative Nebenwirkungen reduziert. Ein schmerzfreier Übergang ist nicht in Sicht, wie vom Walöl und Kohle auf Erdöl im 19. Jahrhundert. Die Atomenergie hat die in ihr gesetzten Erwartungen nicht erfüllt und ist technisch wie politisch umstritten. Eine Vielzahl von technischen Lösungen steht bereit, bei keiner ist ein Durchbruch zu einem Katalysator zu früheren Wachstumszahlen erkennbar. Dabei ist die unrealistische Wunschliste an Ingenieure, die einen globalen Aufschwung nach sich ziehen würden, fast beliebig lang: Speicher für Strom, ein Weltraumlift, Kostensenkungen um den Faktor 10 bei der Atomenergie, exotische Materialien und mehr.
4. Seit dreißig Jahren nehmen Wachstumsraten in den entwickelten Volkswirtschaften und die globalen Zinssätze ab. Erklärungsmuster bestehen viele, keine ist überzeugend: Eine alternde Bevölkerung zieht Deflation der Inflation vor. Die Bevölkerung schrumpft. Die Sparschwemme (saving glut) von 22 - 24 % BIP seit den 1980-er Jahren führt zu finanziellen Repressionen.
Ein Erklärungsmuster für sinkende Gewinne und Zinsraten ist die die ausklingenden Phase einer Kondrajewschen Wachstumswelle. Kommt es zu einem technologischen Durchbruch, dann verändert sich das Bild wieder. Um mit William Gibson zu sprechen: The future is already here - it's just not evenly distributed." Zwar sind die Gewinne in der IT-Brache schon heute extrem hoch, nur ist ihre volkswirtschaftliche Bedeutung gering und sie kannabilisieren bestehende Aktivitäten. Dies trifft die Musikindustrie heute wie das fahrerlose Auto morgen. Technologie-Giganten wie Apple und Google verfügen über Vermögen im dreistelligen Milliardenbereich, für die sie keine produktive Anwendung finden.Laut einer Studie können 80 % der gegenwärtigen Arbeitsplätze durch Roboter wegrationalisiert werden.
5. Die wohl größte Herausforderung ist die soziale Ungleichheit und das politische Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit. Nach den Zumutungen des Kalten Krieges wurden soziale Ungleichheiten nur beiläufig thematisiert, das Buch von Piketty „Capital in the 21st century“ stellt einen Wendepunkt in der Wahrnehmung dar, eine Revolution, auf die inzwischen eine Unzahl von Rezensionen hinweisen, von Paul Krugman bis zum IMF. Die vorläufige Quintessenz der Diskussion ist, dass die soziale Differenzierung vorkapitalistische Ausmaße erreicht hat, die wachstumsmindernd wirkt und mit einer langfristigen politischen Stabilität nicht vereinbar ist. Änderungen wie eine globale Vermögenssteuer scheitern am politischen Kräfteverhältnis. Vor 100 Jahren „löste“ sich eine vergleichbare Situation mit der russischen Revolution, den europäischen Bürgerkriegen 1914 – 1945 und dem folgenden Kalten Krieg. Militärische Herausforderungen und der Systemwettbewerb veränderten den gesellschaftlichen Konsens und zivilisierten das Kapital. Die Diskussion hat begonnen, was dies für Wissenschaft und Gesellschaft heute bedeutet, zumal die dramatischen Entwicklungen der Vergangenheit weder wünschenswert noch sichtbar sind.
Carlota Perez
arbeitet in ihrem Buch: „Technological
Revolution and Financial Capital: The Dynamics of Bubbles“ einen
Erklärungsansatz für Strukturreformen heraus, siehe Diagramm oben. Sie beschreibt, dass sich ein
technisch-ökonomisches Paradigma spontan herausbildet, aber mit zunehmender
Ausprägung den gesellschaftlichen Verhältnissen in Konflikt gerät, die
zunehmend als Hemmnis für das weitere Wachstum wirken. Eine Neustrukturierung
der Gesellschaft muss erfolgen, um das gesamte Wohlstandspotential zum
Durchbruch zu verhelfen.
Kann ein solcher Ansatz helfen, um die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche zu verstehen? Brauchen wir eine Neukalibrierung unserer sozialen Normen, wie beispielsweise der staatliche Schutz des geistigen Eigentums, der "The-Winner-takes-all" Märkte erst möglich macht? Wie sind Änderungen durchsetzbar, die bestehende Vermögen in volkswirtschaftlich relevanten Größenordnungen obsolet machen würde? Ist der politische Prozess ausreichend, um sich diesen Herausforderungen zu stellen oder werden wieder Einbrüche an der Peripherie der Weltwirtschaft erfolgen?
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