John Maynard Keynes

The analysis was in terms of a single national economy. What is desperately needed now is a rewrite in terms of the world economy." (John Maynard Keynes's General Theory of Employment, Interest and Money, 1936)

Sonntag, 27. April 2014

Kapitalismus heute: Eine Positionsbestimmung



Kein Tag ohne eine Rezension von Piketty’s Buch zur sozialen Ungleichheit! Eine Auswahl der letzten Tage ist hier, hier, hier, hier und hier (die FAZ mit einer ausführlichen Übersicht hier, die Süddeutsche hier). Mit 80.000 Exemplaren wird der Autor zum Superstar und personifiziert nun auch in der Wissenschaft die paradoxe Feststellung „Der Kapitalismus funktioniert nicht“ (The Guardian). Die Herausforderung lässt sich in wenigen Worten so beschreiben: 
  • warum hat die soziale Ungleichheit vorkapitalistische Ausmaße angenommen, wobei sich die Indizien mehren, dass dies das Wachstum unterminiert, und
  • warum sind klassische Vorschläge und Rezepte, an denen die Wissenschaft seit Jahrzehnten arbeitet, politisch nicht umsetzbar. Dazu gehört auch die von Piketty vorschlagene globale Erschaftssteuer.
Die Situation ist unbefriedigend und eine theoretische Herausforderung. Dass der IMF inzwischen eine eigene Webseite zur sozialen Ungleichheit hat, beschreibt als Episode nicht nur eine vollständige Kehrtwendung vom Washingtoner Konsensus, sondern auch den Grad der Verunsicherung.

Nun hat der Kapitalismus in den letzten 250 Jahren schon so manche Herausforderung bewältigt. Bisher ist noch jede Alternative gescheitert oder als produktiver Impuls integriert worden. 

Wie ist die gegenwärtige Situation zu verstehen? Wo steht der Kapitalismus? Bis bessere Argumente und Daten vorhanden sind, versuchen wir das Modell von Carlota Perez über Strukturanpassungen bei nichtlinearen gesellschaftlichen Prozessen zu nutzen: Innovative Prozesse entstehen spontan und kommen mit der Zeit immer mehr in Konflikt mit den bestehenden sozialen Normen und formellen institutionellen Regelungen. Ist eine bestimmte kritische Masse erreicht, dann passen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse an und ermöglichen die vollständige Realisierung des technologischen Potentials bis zu einer neuen Welle an Innovationen.

Nehmen wir als Ausgangspunkt die Kondrajewschen Wellen. Jede Welle beschreibt einen technologischen Zustand, von Wellenberg zu Wellenberg steigt die Profitrate, innerhalb einer Welle sinkt sie. Entsprechend dieser Logik befinden wir uns in einem Tal. Die seit Jahrzehnten sinkenden Gewinn- und Zinsraten entsprechen diesem Bild. Sobald ein technologischer Durchbruch erfolgt, wird Wachstum wieder anziehen, Arbeit knapp werden, damit sich das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital verändern und die soziale Ungleichheit wieder zurückgehen. Das politische Gebot wäre „Kein Handlungsbedarf“. Und dies war auch die dominierende Interpretation vor Piketty.

Das Problem ist, dass – im Unterschied zu 1928 – selbst die globale Finanzkrisis 2008 das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital nicht verändert hat, dass sich die Wellen nicht statistisch nachweisen lassen und es keine Einigkeit über ihre  Abgrenzung gibt. Carlota Perez analysiert wie Kondratjew fünf technisch-ökonomische Paradigma von 1771 bis 1971. 
Quelle
Die deutsche Bundesregierung vermarktet die Industrie 4.0. Brad de Long unterteilt 4 technische Revolutionen. Auch Anatole Kaletysky analysiert "Capitalism 4.0". Dan Breznitz und John Zysman schreiben von der dritten Globalisierung und Jeremy Rifkin von der dritten industriellen Revolution Eric Brynjolfsson und Andrew McAfee sprechen vom zweiten Maschinenzeitalter. Robert J. Gordon beschreibt drei Industrielle Revolutionen und geht von einem 200-jährigen Zyklus aus, wobei ein Wachstumsmaximum in den USA schon überschritten wurde.

Quelle

Weiterhin ist die Weltwirtschaft nicht einheitlich. Erst in den letzten Jahrzehnten haben die entwickelten Industrieländer durch Verlagerung von arbeits-, investitions- und umweltintensiven Aktivitäten in die Schwellenländer die Möglichkeiten erhalten, massiv in die Wissensökonomie zu investierten und sind, Stichwort Reindustrialisierung, mit niedrigem Wachstum und komplexen Strukturreformen gefordert. Am anderen Ende der Entwicklungsleiter ist auch 250 Jahre nach Beginn der Industrialisierung die absolute Anzahl der Menschen in Subsistenzwirtschaft nicht gefallen. Die globale Bevölkerung lag um 1750 bei über einer Milliarde Menschen, was in etwa der Bevölkerung entspricht, die heute in absoluter Armut mit unter 1.25 USD je Tag lebt. Seit Beginn der industriellen Revolution steigt die Kluft zwischen technologischer Grenze und der Sicherung des physischen Überlebens.

 
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass nach dem Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft die Transformation zur nachindustriellen Gesellschaft aussteht. In den entwickelten Industriegesellschaften sind heute rund 1 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft beschäftigt und weniger als 20 % in der Industrie, mit stark fallender Tendenz. Das Rationalisierungspotential ist erheblich. Durch Robotisierung können 80% der bestehenden Arbeitsplätze wegfallen. Eine ander Studie kommt zum Schluss, dass 47% aller Arbeitsplätze durch die fortschreitende Computerisierung bedroht sind. Beispielsweise steht das fahrerlose Auto auf der Startrampe. Die möglichen Ersparnisse sind erheblich, 1300 Milliarden USD in den USA, 5600 USD weltweit

Eine Studie zeigt, dass die Qualifikationsanforderungen bei denen Arbeitsplätzen seit der Jahrtausendwende in den USA sinken.  Viele neue Arbeitsplätze entstehen im Servicesektor aufgrund des individuellen Bedarfs der Reichen und Superreichen. Mit dem Trend zur Plutokratie kommt eine Art Neo-Feudalismus.

Extrapoliert man die  Trends, dann kann der bestehende Wohlstand mit 10 % aller heutigen Beschäftigten erzielt werden. Würde diese Situation über Nacht eintreten, so wäre der moderne Staat hoffnungslos überfordert und eine Wiederholung von Verteilungskonflikten des letzten Jahrhunderts nicht ausgeschlossen. 

Nur ist die Situation historisch nicht prinzipiell neu. Ähnliches Trends gab es mehrfach. Ein Beispiel ist hier (Studie). Das Marxsches Gesetz der Verelendung hat keinerlei empirische Grundlage. Ist eine kritische Masse erreicht, so erfolgt ein Wendepunkt, von der ab Qualifikation neu bewertet wird. Offensichtlich müssen auch heute neue Modelle und Formen entdeckt werden, die die Leistungsfähigkeit und Kreativität von 90 % der Bevölkerung positiv evaluieren, Anreize vermitteln und begrenzte Ressourcen sinnvoll verteilen. 

Die Diskussionen über das bedingungslose Bürgergeld in Deutschland oder die Überflussgesellschaft (Leisure society in der Financial Times) thematisieren diese neuen Fragestellungen. Noch zeigen sie keine befriedigende Antworten und werden nicht mit einem potentiell höheren Wohlstandsniveau - wie auch immer dieser verstanden wird - in Verbindung gebracht.
 
Nicht minder komplex ist die Frage nach dem politischen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit und einem unausweichlichen Umkehrpunkt. Die Europäischen Bürgerkriege 1914 – 45 und der Kalte Krieg schufen ein politisches Gleichgewicht, der von den globalen Eliten verinnerlicht wurde und mäßigend wirkte. In den USA war das Mondprogramm  eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, wo heute ein aus europäischer Sicht eher bescheidene Obamacare umstritten ist. Die globale "Occupy" Bewegung verpuffte rückhaltelos. Eine konterkarierende politische Kraft zur gegenwärtigen Dominanz des Kapitals ist weder innenpolitisch noch an der Peripherie der Weltwirtschaft, wie es Russland im letzten Jahrhundert war, in Sicht. Eine Korrektur und Entwertung bestehender Vermögen ist aber unabdingbarer  Bestandteil institutioneller Pfadänderungen und den Eintritt in einen neuen Wachstumszyklus.

Technisch ist eine Neuverteilung von Vermögen relativ einfach. Reichtum ist zunehmend virtuell, geschützt durch das Gewaltmonopol des Staates, so beim intellektuellen Eigentum. Wie Fiatgeld ist es der Anspruch auf zukünftige Cash Flow und Ressourcen, die wiederum auf das Vertrauen in die Stabilität und Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Institutionen beruhen. Schwächt, beispielsweise, der Staat den Schutz des geistigen Eigentums, dann können sich First-Mover nicht mehr den überwiegenden Teil der Wertschöpfung in neuen Märkten aneignen. Bisher überließ man die Spielregeln und Anforderungen im „Neuland“ (Angela Merkel) dem Selbstlauf. Diese Möglichkeiten der Ignoranz nähern sich dem Ende. Über das Wie haben die Diskussionen begonnen, noch sind aber eindeutige Trends nicht zu erkennen. 

Mit anderen Worten, sowohl langjährige technologische Entwicklungen wie historische Trends bei den sozialen Unterschieden weisen auf Ungleichgewichte hin, mit denen die heutigen Gesellschaften seit Jahrzehnten nicht konfrontiert waren. Zugleich ist für die kommenden drei bis fünf Jahre oder so noch keine kritische Masse für eine Trendumkehr und einen neuen Entwicklungspfad erkennbar.

Wo steht der Kapitalismus heute? Eine hektische Ruhepause vor dem perfekten Sturm!

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