Hat Putin den
Bezug zur Realität verloren? Präziser wäre es vielleicht von einer alternativen Weltsicht zu sprechen. Seitdem Gorbatschow mit
der Eselsbrücke allgemeiner menschlicher Werte das kommunistische
Wahrheitsmonopol unterminierte gab es keine derartig unterschiedliche Weltsicht
der führenden (Nuklear-) Mächte.
Seit jeher weist
die moderne Zivilisation eine Spannweite zwischen Handeln und Worten, zwischen
Innen- und Außenpolitik auf. In der Regel funktioniert dies gut und zum
gegenseitigen Nutzen. Dies war in der Vergangenheit so, siehe den zivilisatorischen Beitrag von Wissenschaft und Technik, dies ist heute so, wenn es mehr Mobiltelefone als Menschen gibt. Und es gibt auch die Gegenbeispiele. Auf der Kostenseite steht der Beitrag des
Sklavenhandels zur Finanzierung der industriellen Revolution oder die Haushaltskonsolidierung durch Opiumkriege
im Namen von Freihandel und Religionsfreiheit
im 19. Jahrhundert. Seither haben sich nur die die Formen und der konkrete politische Konsens dramatisch gewandelt, nicht der Mechanismus selbst.
Saudi-Arabien ist
mit seinem aggressiven Wahabismus und einem vormodernen Frauenverständnis ein strategischer
Partner des Westens, weil es einen Beitrag zu global stabilen Ölpreisen
leistet. Rohstoffe kommen aus Krisenregionen und finanzieren Konflikte, die
weit weg sind und nur sporadisch thematisiert werden. Russisches Öl und Gas ist
für den eigenen Wohlstand unverzichtbar; das Geld der russischen Oligarchen verhindert
vorerst Sanktionen gegen sie auf dem Londoner Finanzplatz. „Wir
können uns Sanktionen gegen Russland nicht leisten“, sagt der Ökonom
Hans-Werner Sinn mit Bezug auf die Energiewende. Scheinbar virtuos spielt Putin
mit den Kompromissen des Westens und positioniert sich als Großmacht, die aus
der Zeit gefallene geopolitische Rochaden spielt.
Dabei wird oft übersehen,
wie stark Putin mit dem Rücken zur Wand steht. Seine außenpolitischen Erfolge
verdrängen die dramatischen Probleme im Inland. Ein Blick hinter die Kulissen
offenbart: Der König ist nackt. Die Haltbarkeitsdauer des Putinschen Modells
neigt sich dem Ende. Die gegenwärtige Stärke ist nur scheinbar. Die
Beatmung durch außenpolitische Experimente kann einen kommenden Wechsel nur zeitlich
verdrängen, zum Preis höherer Anpassungskosten und einem volkswirtschaftlichem
Pfad niedrigerer Wertschöpfung in der Zukunft.
Quelle
Quelle
Aufstieg und Fall
des Putinschen Gesellschaftsvertrages hat klare Konturen. Als Putin 1999 an die
Macht kam, hatte der Staat kurz zuvor die Zahlungsfähigkeit erklärt, einzelne Oligarchen
dominierten das politische Geschehen und das staatliche Gewaltmonopol wurde von
vielen Seiten herausgefordert. Das Lebensniveau und selbst die Lebenserwartung,
ein Phänomen für Friedenszeiten, befanden sich im freien Fall. Die Sturm-und-Drang-Phase des
russischen Kapitalismus, neu gewonnene demokratischen Freiheiten und
marktwirtschaftlichen Reformen hatten ungeachtet einzelner Erfolge unter dem
Strich der russischen Gesellschaft mehr Schmerzen als Heilung verursacht.
Wie so oft in der
Geschichte kamen institutionelle Trends und pures historisches Glück zusammen und mit Putins Machtergreifung verbindet sich ein Trendwechsel, der Aufstieg und Fall des Putinismus.
Mit Hilfe der funktionstüchtigsten Institutionen der Vergangenheit, der
Geheimdienste, der Silowiki, baute Putin den russischen Staat wieder auf. Der steigender
Ölpreis finanzierte einen ungeschriebener Gesellschaftsvertrag: Konsolidierung der autoritären
Macht und ein steigendes Lebensniveau. Die Rechnung ging auf. Die Realeinkommen
stiegen – je nach Berechnungsart - um das Zehnfache (!), während sie im Westen
weitgehend stagnierten, eine Goldene Zeit in der konfliktreichen russischen Geschichte. Dies half der Legitimation. Der russische Staat erfüllt
wieder seine wichtigsten Funktionen. Eine Modernisierung von Oben wurde in
verschiedenen Anläufen in Angriff genommen.
Die Erfolge
übertünchten die strukturellen Schwächen: die fehlende Rechtssicherheit führte
zur jährlichen Kapitalflucht in mittlerer zweistelliger Milliardenhöhe, die
Korruption und der Ressourcenfluch schnürt die Modernisierung der Wirtschaft
ab. Der Brain-drain russischer Fackkräfte führt zu Verdrängungseffekte an amerikanischen
mathematischen Fakultäten. Die Abhängigkeit von Export von Rohstoffen und
Energieträgern erreicht 85 %. Bis auf exotische Nischen wie die Raumfahrt verlor
die russische Wirtschaft an Wettbewerbsfähigkeit. Sie ist keine industrielle Nation mehr und wird wohl zu Recht aus dem Kreis der G8 herausfallen.
Die Folge ist eine wachsende Ohnmacht, Wachstum angesichts der
bestehenden strukturellen Schwächen zu erzeugen, nicht unähnlich der Breshnewschen Ära der Stagnation um 1980 (Analyse, Analyse). Da die Preise für Öl und Gas
nicht im Durchschnitt der letzten 10 Jahre weiter steigen können (von 30 USD
auf ca. 100 USD), kann das bestehende Gesellschaftsmodell von den Herrschenden
nicht erfüllt werden. Damit bahnt sich wieder eine Krisis des politischen
Systems an und das politische Schicksal Putins steht auf dem Spiel. Das autoritäre System steht vor seiner größten Belastungsprobe. Die
Einverleibung der Krim ist kein
Akt eines expandierenden Imperiums, sondern die letzte Verteidigungsliniegegen eine anrollende Modernisierungswelle, die in der Form der Verwestlichung
dämonisiert wird. Putin wird ahnen, dass er diese Schlacht nicht gewinnen kann, wohl aber über viele Instrumente und Methoden verfügt, um sie zu hinaus zu zögern. Der Konflikt mit der Ukraine ordnet sich hier ein.
Nach 1917 und 1991 steht Russland vor seiner dritten Modernisierungswelle. Es ist ein nichtlinearer Prozess, der über Nacht erfolgen kann oder erst in fünf Jahren, aber zweifelsohne kommen wird.
Vor diesem Hintergrund sollten auch die Ereignisse in der Krim betrachtet werden. Sobald sich die Situation beruhigt hat, werden vollständig neue Lösungsansätze möglich sein. Ein langer Atem und gute Nerven scheinen angebracht.
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