John Maynard Keynes

The analysis was in terms of a single national economy. What is desperately needed now is a rewrite in terms of the world economy." (John Maynard Keynes's General Theory of Employment, Interest and Money, 1936)

Freitag, 7. März 2014

Expansion als die letzte Verteidigungslinie Putins


Hat Putin den Bezug zur Realität verloren? Präziser wäre es vielleicht von einer alternativen Weltsicht zu sprechen. Seitdem Gorbatschow mit der Eselsbrücke allgemeiner menschlicher Werte das kommunistische Wahrheitsmonopol unterminierte gab es keine derartig unterschiedliche Weltsicht der führenden (Nuklear-) Mächte.

Seit jeher weist die moderne Zivilisation eine Spannweite zwischen Handeln und Worten, zwischen Innen- und Außenpolitik auf. In der Regel funktioniert dies gut und zum gegenseitigen Nutzen. Dies war in der Vergangenheit so, siehe den zivilisatorischen Beitrag von Wissenschaft und Technik, dies ist heute so, wenn es mehr Mobiltelefone als Menschen gibt. Und es gibt auch die Gegenbeispiele. Auf der Kostenseite steht der Beitrag des Sklavenhandels zur Finanzierung der industriellen Revolution oder die Haushaltskonsolidierung durch Opiumkriege im Namen von Freihandel und Religionsfreiheit im 19. Jahrhundert. Seither haben sich nur die die Formen und der konkrete politische Konsens  dramatisch gewandelt, nicht der Mechanismus selbst.

Saudi-Arabien ist mit seinem aggressiven Wahabismus und einem vormodernen Frauenverständnis ein strategischer Partner des Westens, weil es einen Beitrag zu global stabilen Ölpreisen leistet. Rohstoffe kommen aus Krisenregionen und finanzieren Konflikte, die weit weg sind und nur sporadisch thematisiert werden. Russisches Öl und Gas ist für den eigenen Wohlstand unverzichtbar; das Geld der russischen Oligarchen verhindert vorerst Sanktionen gegen sie auf dem Londoner Finanzplatz.  Wir können uns Sanktionen gegen Russland nicht leisten“, sagt der Ökonom Hans-Werner Sinn mit Bezug auf die Energiewende. Scheinbar virtuos spielt Putin mit den Kompromissen des Westens und positioniert sich als Großmacht, die aus der Zeit gefallene geopolitische Rochaden spielt.

Dabei wird oft übersehen, wie stark Putin mit dem Rücken zur Wand steht. Seine außenpolitischen Erfolge verdrängen die dramatischen Probleme im Inland. Ein Blick hinter die Kulissen offenbart: Der König ist nackt. Die Haltbarkeitsdauer des Putinschen Modells neigt sich dem Ende. Die gegenwärtige Stärke ist nur scheinbar. Die  Beatmung durch außenpolitische Experimente kann einen kommenden Wechsel nur zeitlich verdrängen, zum Preis höherer Anpassungskosten und einem volkswirtschaftlichem Pfad niedrigerer Wertschöpfung in der Zukunft. 


Quelle

Aufstieg und Fall des Putinschen Gesellschaftsvertrages hat klare Konturen. Als Putin 1999 an die Macht kam, hatte der Staat kurz zuvor die Zahlungsfähigkeit erklärt, einzelne Oligarchen dominierten das politische Geschehen und das staatliche Gewaltmonopol wurde von vielen Seiten herausgefordert. Das Lebensniveau und selbst die Lebenserwartung, ein Phänomen für Friedenszeiten,  befanden sich im freien Fall. Die Sturm-und-Drang-Phase des russischen Kapitalismus, neu gewonnene demokratischen Freiheiten und marktwirtschaftlichen Reformen hatten ungeachtet einzelner Erfolge unter dem Strich der russischen Gesellschaft mehr Schmerzen als Heilung verursacht. 

Wie so oft in der Geschichte kamen institutionelle Trends und pures historisches Glück zusammen und mit Putins Machtergreifung verbindet sich ein Trendwechsel, der Aufstieg und Fall des Putinismus. 

Mit Hilfe der funktionstüchtigsten Institutionen der Vergangenheit, der Geheimdienste, der Silowiki, baute Putin den russischen Staat wieder auf. Der steigender Ölpreis finanzierte einen ungeschriebener Gesellschaftsvertrag: Konsolidierung der autoritären Macht und ein steigendes Lebensniveau. Die Rechnung ging auf. Die Realeinkommen stiegen – je nach Berechnungsart - um das Zehnfache (!), während sie im Westen weitgehend stagnierten, eine Goldene Zeit in der konfliktreichen russischen Geschichte. Dies half der Legitimation. Der russische Staat erfüllt wieder seine wichtigsten Funktionen. Eine Modernisierung von Oben wurde in verschiedenen Anläufen in Angriff genommen.

Die Erfolge übertünchten die strukturellen Schwächen: die fehlende Rechtssicherheit führte zur jährlichen Kapitalflucht in mittlerer zweistelliger Milliardenhöhe, die Korruption und der Ressourcenfluch schnürt die Modernisierung der Wirtschaft ab. Der Brain-drain russischer Fackkräfte führt zu Verdrängungseffekte an amerikanischen mathematischen Fakultäten. Die Abhängigkeit von Export von Rohstoffen und Energieträgern erreicht 85 %. Bis auf exotische Nischen wie die Raumfahrt verlor die russische Wirtschaft an Wettbewerbsfähigkeit. Sie ist keine industrielle Nation mehr und wird wohl zu Recht aus dem Kreis der G8 herausfallen.

Die Folge ist eine wachsende Ohnmacht, Wachstum angesichts der bestehenden strukturellen Schwächen zu erzeugen, nicht unähnlich der Breshnewschen Ära der Stagnation um 1980 (Analyse, Analyse). Da die Preise für Öl und Gas nicht im Durchschnitt der letzten 10 Jahre weiter steigen können (von 30 USD auf ca. 100 USD), kann das bestehende Gesellschaftsmodell von den Herrschenden nicht erfüllt werden. Damit bahnt sich wieder eine Krisis des politischen Systems an und das politische Schicksal Putins steht auf dem Spiel. Das autoritäre System steht vor seiner größten Belastungsprobe. Die Einverleibung der Krim ist kein Akt eines expandierenden Imperiums, sondern die letzte Verteidigungsliniegegen eine anrollende Modernisierungswelle, die in der Form der Verwestlichung dämonisiert wird. Putin wird ahnen, dass er diese Schlacht nicht gewinnen kann, wohl aber über viele Instrumente und Methoden verfügt, um sie zu hinaus zu zögern. Der Konflikt mit der Ukraine ordnet sich hier ein.

Nach 1917 und 1991 steht Russland vor seiner dritten Modernisierungswelle. Es ist ein nichtlinearer Prozess, der über Nacht erfolgen kann oder erst in fünf Jahren, aber zweifelsohne kommen wird.

Vor diesem Hintergrund sollten auch die Ereignisse in der Krim betrachtet werden. Sobald sich die Situation beruhigt hat, werden vollständig neue Lösungsansätze möglich sein. Ein langer Atem und gute Nerven scheinen angebracht.  

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