John Maynard Keynes

The analysis was in terms of a single national economy. What is desperately needed now is a rewrite in terms of the world economy." (John Maynard Keynes's General Theory of Employment, Interest and Money, 1936)

Donnerstag, 27. Februar 2014

Politischer Umsturz in der Ukraine, die EU vor einem Dilemma


Es war ein Risiko, nun ist es eingetreten: mit 80 Toten entrichtete der Euromaidan einen hohen Blutzoll. Bestehende Mechanismen zur Konfliktlösung haben nicht ausgereicht. Extremistische Kräfte wurden gestärkt. Die politische Situation hat eine neue, gefährlichere Dimension erreicht. Jede Freude über den Sieg demokratischer Kräfte über einen Kleptokraten kann nicht darüber hinweg täuschen, dass das Land der nächste Kandidat für eine gescheiterte Revolution ist.

Zuerst, die ukrainische Staatlichkeit ist durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen bedroht. Die Büchse der Pandora wurde geöffnet. Die Geschichte und die Gegenwart lehren: Tote ziehen Tote nach sich, oft in einem  überproportionalen Verhältnis von 1:10 und 1: 100. Die Pendelausschläge zu den Extremen erhöhen den Preis des Umbruchs. Für alle Seiten verringern sich die Möglichkeiten der Einflussnahme. 

Staatliche Institutionen aufzubauen ist ein außerordentlicher Kraftakt. Der Staat ist und bleibt die wichtigste Institution einer Gesellschaft. Die Ukraine hat keine oder nur wenig staatliche Traditionen, es ist ein linguistisch, politisch und mental geteiltes Land.






Im Westen wird die eigene Staatlichkeit oft als gegeben vorausgesetzt, zumal die Wurzeln teilweise bis in das finstere Mittelalter reichen und die Turbulenzen des 20. Jahrhunderts gern vergessen werden. Damit wird die Dimension unterschätzt, die nötig ist, um einen modernen Staat aufzubauen. Vor 20 Jahren hatten die Ukraine und Polen dasselbe Pro- Kopf -BSP, heute ist Polen dreimal reicher. Unterschiede in der Tradition von Staatlichkeit und der Herausbildung einer nationalen Identität sind Ursachen.  Nicht die Korruption ist der Geißel, der Entwicklung verhindert, wie dies in den Massenmedien oft kolportiert wird, sondern die Schwäche des Staates lädt zum ständigen und ausufernden Missbrauch ein und kann systemisch von Einzelinteressen usurpiert werden. Der Niedergang der Orangen Revolution hat hier ihre eigentliche Ursache, auch wenn die demokratischen Kräfte damals scheinbar an handwerklichen Fehlern scheiterten.

Weiter, die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die bei der politischen Zuspitzung zum Sieg führen, sind für den weiteren gesellschaftlichen Aufbau vollkommen unbrauchbar. Zwar sind die Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, Annäherung an die EU und ein Ende der Korruption sind vollkommen legitim, aber eine informelle Gruppe wie der Maidan Council darf nicht das Gewaltmonopol beanspruchen. Um erfolgreich zu sein, muss eine Revolution ihre Kinder fressen. Auch für die Ukraine ist der Lackmustest für erfolgreiche  Veränderungen die Schnelligkeit mit der der politische Prozess in formelle Formen zurückkehrt und damit der Maidan Council an Macht und Einfluss verliert. 

Jede Revolution hat ihre Konterrevolution. Das industrielle Kerngebiet im Osten der Ukraine, aus dem Janukewitsch stammt, ist gegenwärtig der Verlierer. Dies wird nicht so bleiben. Die romantische Phase noch jeden politischen Umsturzes ist extrem kurz.  Schon erste Entscheidungen der  Übergangsregierung wie der notwendige Abbau der Subventionen werden die politische Landschaft radikal verändern. Denn damit werden die Lebensgrundlagen der gesamten Bevölkerung betroffen. Frühere Regierungen trauten sich dies nicht, selbst für den Preis von IMF-Krediten in Milliardenhöhe. Wie die ersten Verlautbarungen der Übergangsregierung zeigen, versucht man sich daran. Es wird viel schwieriger, nicht leichter, die politische Instabilität einzudämmen.

Solange die Ukraine politisch instabil ist, bleibt einheimisches wie ausländisches Kapital fern. Eine wirtschaftliche Genesung kann nicht erfolgen (Analyse).  Der globale Wettbewerb wird für den Standort Ukraine für längere Zeit eine Risikoprämie einfordern. Damit werden Investitionen in eine Grauzone kanalisiert, die die Grenzen von Sittlichkeit und Fairness berühren. Solches Risikokapital ist auch nicht ausreichend, um einen nachhaltigen Wachstumspfad zu betreten. Ohne äußere Impulse droht die Ukraine in einen Kreislauf aus Instabilität und wirtschaftlicher Schwäche zu versinken, geschweige denn einen westeuropäischen Wohlstandsstaat aufzubauen. 

Was kann die EU tun? Man kann nur mit George Soros übereinstimmen, dass die EU einen entscheidenden Einfluss und damit Verantwortung hat. Ein zerfallender Staat von der Größe der Ukraine in Europa wäre eine geopolitische Katastrophe und ein beispielloses Versagen des Westens. Priorität muss der Erhalt des ukrainischen Staates haben. "Es ist jetzt wichtig", sagt Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen, "dass vor allem ein Auseinanderbrechen der Ukraine verhindert und die besonnenen Kräfte im Land gestärkt werden".  Dafür sind weitgehende Kompromisse notwendig. Erste Fahrpläne zur Stabilisierung liegen vor.  Auch Russlands muss um fast jeden Preis ins Boot geholt werden. Zwar verfügt es über andere Interessen, nutzt andere außenpolitische Instrumente und hat verschiedene Wertevorstellungen, aber der gemeinsame Nenner ist die Vermeidung eines Brandherdes.

Letztlich steht die EU aber vor einem Dilemma: Stellt sie nur unzureichende Ressourcen zur Verfügung oder ist zu zaghaft oder sind die Bedingungen zu hart, dann droht der Staatskollaps. Stelle sie umfangreiche Ressourcen für die Stabilisierung der Ukraine zur Verfügung, dann werden bestehende Strukturen konserviert und die krisengeplagte Südflanke der Europäischen Union lehnt sich gegen diese Sonderbehandlung auf.

Es ist ein Lernprozess der europäischen Entscheidungsträger zu erwarten. Noch trägt die Rhetorik über Demokratie, Marktwirtschaft und Kampf der Korruption. Den Standardforderungen des IMF nach Austerität, Strukturreformen, Marktliberalisierungen und Subventionsabbau wird nicht widersprochen. Ein Pendelschwung zu den Niederungen der Realpolitik a la Kissinger ist in den kommenden Monaten nicht schwer vorauszusagen. Dann geht es um das Gewaltmonopol des Staates, das Vermeiden von sozialen Unruhen und die Auseinandersetzung mit politischen Extremisten. 

Man kann nur hoffen, dass diese Überlegungen zu pessimistisch sind. 

Update: 4. März: Die Situation hat sich enorm verschärft. Ukraine hat keine Regierung der Nationalen Versöhnung gegründet, wie vertraglich ausgehandelt. Nun sind Extremisten Minister geworden und Russisch wurde als Amtssprache thematisiert, eine Provokation. Regieren als Handwerk wird nicht beherrscht. Russland reagiert hart und bringt die Krim unter militärische Kontrolle. Offensichtlich ist auch Russland in der Spätphase von Putins Herrschaft erheblich fragiler als angenommen. Das Land zeigt Erscheinungen des Zerfalls. Ist dies wirklich die größte Ost-West-Krise seit 25 Jahren? Die Beurteilung der Lage könnte nicht unterschiedlicher sein. Der Westen sieht Russland als Störenfried einer zunehmend labilen Lage, Russland fühlt sich vor dem Kopf gestoßen und möchte seinen Einfluss erhalten, aber kaum für den Preis der Eingliederung von mehreren Millionen verarmter ehemaliger ukrainischer Staatsbürger (5 Faktoren). Der Wohlstand ist  viermal höher in Russland (3.600 USD/Kopf  BIP vs. 13.000 USD/Kopf BIP). Dies könnte auch Russland in den Abgrund reißen. Für die Ostgebiete und die Schwarzmeerküste ist dies die einfachste Lösung: sprunghafter Anstieg des Lebensstandards und Stabilität!   

Das Dilemma für den Westen steigt. Je mehr er die neue ukrainische Regierung unterstützt, desto mehr wird er in den drohenden Staatskollaps hineingezogen. Jeder Tag erhöht das Preisschild der finanziellen Unterstützung. Strukturreformen? Abbau der Subventionen? Unter den jetzigen Bedingungen ist dies staatlicher  Selbstmord. Das Pendel der Veränderung neigt sich von demokratischen Strukturreformen zur Verhinderung des Staatskollapses. Russland wird unverzichtbar, um die Situation zu stabilisieren.
Der Krise hat erst angefangen. Schon das erste Kapitel zeigt eine dramatische Zuspitzung. 
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Update 5. März: 
Drohender Staatskollaps der Ukraine ist eher eine größere Gefahr als Völkerrechtsverstoß Russlands
Siehe auch Zeit

Die wichtigste Aufgabe eines Staates ist es, eine Identität im Unterschied zu allen anderen Identitäten herzustellen. Je klarer diese Identität ist, desto stärker der Staat. Auch deshalb ist der Staat Ukraine schwach: Es gibt ein Brudervolk (Putin, Pressekonferenz 4. März): Russland. Das hat zwar auch Probleme mit seiner imperialen Vergangenheit, aber nicht mit seinem Selbstverständnis als Staat und die entsprechende Krise der Identität unter Jelzin bis 1998 wurde mit Putin vollständig überwunden.

Gehe es nach einem sozialen oder politischen Planer, dann müsste sich der Westen mit Putin an einen Tisch setzen und Möglichkeiten ausloten, wie die Ukraine stabilisiert werden kann. Jetzt hat Russland seine Version der Ereignisse und der Westen stört sich daran, dass in besten Friedenszeiten fremdes Territorium mit (para-) militärischen Mitteln annektiert wurden.

Sollte eine Staatskollaps kommen, müssen beide Seite sehr tief in die Tasche greifen und sich doch an einen Tisch setzen. Ein Land im Herzen Europas mit 45 Millionen Einwohnern ist eine  Katastrophe. Es ist nicht so, dass ein solches Risiko gesehen wird, im politischen Prozess werden die Prioritäten aber vollständig anders gesetzt. Damit gewinnt der Prozess etwas fatales. 





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