Der Halbjahresbericht
des US-amerikanischen Finanzministeriums zur internationalen Wirtschafts- und
Wechselkurspolitik hat zu einer öffentlichen Kontroverse über die Bewertung der
deutschen Leistungsbilanzüberschüsse eführt. Eine Lagerbildung von Gegnern und
Befürwortern mit asymmetrischen Argumentationslinien bildete sich heraus. Die
Diskussion demonstriert unterschiedliche Wahrnehmungen der gegenwärtigen
wirtschaftlichen Situation. Wir analysieren sie vor dem Hintergrund eines sich
am Horizont abzeichnenden Wandels vom bestehenden exportorientierten zu einem
konsumorientierten Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft sowie einem Ende
der Austerität in der EU.
Positiv werden
die bestehenden Leistungsbilanzüberschüsse in Höhe von 7 % der
Jahreswirtschaftsleistung von der Bundesregierung und der Wirtschaft beurteilt
(u.a. Wall
Street Journal, Spiegel,
FAZ). Sie seien die Folge der Qualität der
Waren und der hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Mit einer
Arbeitslosenrate von 5.2 % und einem fiskalischen Primärüberschuss von 1.5 % wurde
Deutschland zu einem Stabilitätsanker in Europa. Der Überschuss selbst ist
Resultat des Marktprozesses, wie der Wirtschaftsweise Volker Wieland betont (Zeit),
ein Tausch Ware gegen Geld, der für beide Seiten vorteilhaft ist (Wirtschaftswoche).
Für eine alternde Gesellschaft wie Deutschland sind Überschüsse notwendig und
eine bestimmte indirekte Exportsubventionierung durch den Euro und den Niedriglohnsektor
erleichterte den Abbau der Arbeitslosigkeit (ZEW). Es gibt kein Problem damit. Deshalb
findet der Überschuss auch keine Erwähnung im Jahresgutachten des
Sachverständigenrates (hier,
hier
und hier).
Aufgabe ist nicht die Verringerung der deutschen Exporte, sondern die
Fortführung der Strukturreformen der anderen EU-Staaten, damit sie ihre
Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und auf den deutschen Erfolgskurs einschwenken.
Negativ wird der
deutsche Leistungsbilanzüberschuss oder, wie vorgeschlagen, das Importdefizit,
vorwiegend auf internationaler Ebene thematisiert. Das Hauptargument ist, dass
die Wächterrolle marktwirtschaftlicher Prinzipien nicht der Komplexität der
Situation gerecht wird. Das gegenwärtige deutsche Geschäftsmodell ist nicht
nachhaltig, sein Nutzen für Deutschland wie für die Welt zunehmend fragwürdig.
Der Exporterfolg
ist teuer und mit wohlstandsmindernden Ressourcenfehlallokationen zugunsten der
Exportindustrie und der Importsubstitutionsindustrie erkauft. Exportüberschüsse
in den jetzigen Größenordnungen werden erst seit der Einführung des Euros und
seiner Unterbewertung für Deutschland in Höhe von 15 – 20 % erzielt. Der
parallele Kapitalexport ist nicht nur ineffektiv (Verluste liegen über 30% (Querschüsse, Huffington
Post), sondern verdrängte
öffentliche wie private Investitionen in Deutschland, so dass sich
beispielsweise der Kapitalstock der öffentlichen Hand seit 2003 verringert. Als
Folge erzielt Deutschland eine der niedrigsten Wachstumsraten (hier, DIW Berlin study).
Während
Deutschland seine eigenen Reformen mit der Agenda 2010 durch einen künstlich niedrigen Euro-Kurs finanzieren konnte, erschwert es nun die Anpassungsleistungen
der anderen Länder. Deutschland auf der einen Seite und Spanien und
Griechenland auf der anderen Seite sind zwei Seiten der gleichen Medaille, sagt
die Washington Post. Ein Prozent höhere Infrastrukturausgaben von Deutschland
und dem Rest der nordischen Länder würden den Leistungsbilanzüberschuss um 03.
bis 0.4 vom BIP verringern und das BIP im Süden Europas um 0.2 – 0.3 %
vergrößern (EU
Studie). Bundesanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren könnten für 1.8
Prozent platziert werden und die Nachfrage in Europa ankurbeln. Sie würden eine
bessere Rendite als 1,8 Prozent bringen, verweist das Wall
Street Journal. Schulden können mit Schulden bekämpft werden, wenn die
Rahmenbedingungen stimmen.
Mit dem Leistungsbilanzüberschuss
reduziert Deutschland die globale Nachfrage, erhöht den Nachfragedruck und
exportiert Deflation (The
Economist). Wie die erste Weltwirtschaftskrise zeigt, kann dies in die
Depression führen (Studie). Die EU-Kommission prüft, ob ein
übermäßiges wirtschaftliches Ungleichgewicht vorliegt, Strafzahlungen in
Milliardenhöhe sind formell nicht unmöglich.
Polarisierung als Indiz für einen Strategiewechsel
Politische
Ansichten repräsentieren unterschiedliche Sichtweisen auf Wachstum und
Besitzstandswahrung. Polarisierungen können Indizien für einen bevorstehenden
Paradigmenwechsel sein. Kontroverse Sichtweisen auf wirtschaftliche Prozesse
werden formuliert, diskutiert, verworfen oder finden Anklang und schließlich
eine Mehrheit, mal früher, mal später. Dieser Such- und Findungsprozess läuft
nur als Ausnahme linear ab. Er ist von einer Vielzahl von Ineffizienzen und
Irrationalitäten geprägt, so dass sich ein roter Faden oft erst im historischen
Rückblick erschließt. Deswegen haben Historiker viel theoretische Arbeit und
immer Recht, während Wirtschaftswissenschaftler, die die Zukunft vorhersagen,
zwar praktischen Nutzen bringen, aber nur selten Recht haben.
Es kann
angenommen werden, dass sich die Orientierung einer Volkswirtschaft ändert und
ein Strategiewechsel vollzieht, wenn:
1.
der
neue Wachstumspfad ein deutlich höheres Wachstumspotential besitzt, und
2.
die
gegenwärtige Kosten und Risiken des Wandels ausreichend gering und vorhersagbar
sind.
Was sind die
Chancen und Risiken für einen Paradigmenwechsel der deutschen Wirtschaft?
Aus globaler
Sichtweise verläuft der Übergang zu einer Wissens- und
Dienstleistungsgesellschaft in allen entwickelten Staaten holprig. Der Anteil
der Entwicklungs- und Schwellenländer am globalen BIP hat sich von 20 Prozent
auf 50 Prozent erhöht. Der Anteil der Arbeit an der Leistungserbringung sinkt
seit Jahrzehnten, eine Wiederholung eines Makrotrends von vor 100 Jahren. Das
globale Zinsniveau hat sich eventuell für längere Zeit auf ein niedriges Niveau
eingepegelt (Larry
Summer). Zwei Interpretationen sind möglich: 1. Der Westen durchläuft eine
Phase anspruchsvoller Strukturreformen. Danach differenziert sich die
wirtschaftliche Entwicklung wieder. 2. Die Angleichung setzt sich fort, die
Weltwirtschaft kehrt zum Zustand von vor der Industriellen Revolution zurück,
als der wirtschaftliche Entwicklungsgrad zwischen den Nationen keine
gravierenden Unterschiede aufwies. Diese Unbestimmtheit der globalen Ausgangslage
kompliziert die Strategiebestimmung für Deutschland, dessen Wirtschaftsstruktur
erstklassig bei Anwendungstechnologien ist.
Ein weiterer, relevanter
Faktor, der sich nur schwer quantifizieren lässt, ist das Erreichen von
technologischen Plateaus, „The winner –takes- all“ Märkten, die über einen
längeren Zeitraum ein natürliches Monopol bilden und Mitbewerber auf Abstand
halten, ohne dass riskante und aufwändige Strukturreformen notwendig sind. Man
denke an die "middle income gap" oder die fast absolute US-Dominanz bei neuen Technologien wie dem Internet oder die Art und Weise,
wie Amazon den deutschen Buchmarkt „revolutioniert“, Wertschöpfung absorbiert und einheimische Unternehmen in Nischen drückt. Deutschland ist abgeschlagen
bei neuen Schlüsseltechnologien und führend bei ihrer Anwendung, als ob Bayern München in der 2. Bundesliga spielt und doch nicht aufsteigen kann. Das Heimatland der
„hidden champions“ verfügt über ausgeprägte Spitzenpositionen im
mittelständischen industriellen Bereich. Mit der hohen Nachfrage aus Schwellen- und
Entwicklungsländern der letzten Jahre hat Deutschland viel historisches Glück. Ob es sich um vorübergehende Wohlfahrtsgewinne handelt oder daraus ein struktureller Wettbewerbsvorteil entstehen kann, ist unklar und hängt viel vom weiteren Verlauf der technologischen Entwicklung ab.
Europa hatte sich
mit der Lissabon Strategie 2010 das Ziel gestellt, die wettbewerbsfähigsten
Region der Welt zu. Diese Top-Down Strategie zerbarst an den strukturellen
Defiziten, die gegenwärtig sehr mühsam bereinigt werden. Diese werden in den
kommenden 5 – 10 Jahre Früchte tragen und sich positiv auf die Dynamik
auswirken. Die Ambitionen werden beeinflusst durch das weiter bestehende
Spannungsfeld zwischen der EU und der Souveränität nationaler Staaten mit hohen
wirtschaftlichen Unterschieden (1:5 in den USA, 1:8.6 in Europa zwischen besten und schwächsten Staaten, hier) sowie dem bestehenden Rückstand der wirtschaftlichen Entwicklung zu den USA. Eventuell wird Europa seinen Status als größte
Wirtschaftsregion verlieren.
Der deutsche
Reformzyklus verfügt über ein hohes Maß an politischer Eigendynamik. Die Wirtschaft
hatte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verlorene Positionen auf den
Weltmärkten zurück gewonnen, war aber mit zunehmenden gesellschaftlichen
Verkrustungen konfrontiert. Von der „Hau ruck“ Rede
Roman Herzogs im Jahre 1997 benötigte die Einleitung institutioneller
Innovationen 6 Jahre bis die Agenda 2010 und die Hartz 4 Reformen beschlossen
wurden. Gegenwärtig erntet Deutschland die Früchte dieser Reformanstrengungen. Dies
bedeutet leider auch, dass während eines solchen Goldenen Zeitalters die
Sensibilität für Reformen gering ist, was einen wirtschaftsstrategischen Kurswechsel
erschwert. Zu berücksichtigen ist weiterhin die demographische Situation. Die
Hälfte der Wähler ist über 50 Jahre alt. Dies verschiebt Präferenzen zur
Bewahrung des Status Quo, was – siehe Japan - tendenziell der Deflation den
Vorschub gibt und vielleicht die wenig rationelle Angst Deutschlands vor der
Inflation erklärt.
Die polemisch
zugespitzten Vorwürfe von Paul
Krugman, dass sich die deutschen Eliten nicht der Verantwortung stellen,
sind am Beispiel dieser Diskussion nicht vollständig grundlos. Deutschland
profitiert substantiell von der EU Erweiterung und agiert derzeitig hilflos, seinen
relevanten Beitrag für die Überwindung der EU Krisis zu benennen. Zugleich ist
der interne politische Leidensdruck für einen Strategiewechsel gering und
diffus und kann gut eine Argumentationslücke überstehen.
Es bleibt
spannend, wie die Lernkurve weiter verläuft, wann ein Umkehrpunkt eintritt und
ob sich die erwarteten Zuwächse mit einer Belebung der Binnenkonjunktur in
Deutschland auch wirklich materialisieren.
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