John Maynard Keynes

The analysis was in terms of a single national economy. What is desperately needed now is a rewrite in terms of the world economy." (John Maynard Keynes's General Theory of Employment, Interest and Money, 1936)

Montag, 18. November 2013

Wann kommt der deutsche Strategiewechsel?


Der Halbjahresbericht des US-amerikanischen Finanzministeriums zur internationalen Wirtschafts- und Wechselkurspolitik hat zu einer öffentlichen Kontroverse über die Bewertung der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse eführt. Eine Lagerbildung von Gegnern und Befürwortern mit asymmetrischen Argumentationslinien bildete sich heraus. Die Diskussion demonstriert unterschiedliche Wahrnehmungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation. Wir analysieren sie vor dem Hintergrund eines sich am Horizont abzeichnenden Wandels vom bestehenden exportorientierten zu einem konsumorientierten Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft sowie einem Ende der Austerität in der EU.

Positiv werden die bestehenden Leistungsbilanzüberschüsse in Höhe von 7 % der Jahreswirtschaftsleistung von der Bundesregierung und der Wirtschaft beurteilt (u.a. Wall Street Journal, Spiegel, FAZ).  Sie seien die Folge der Qualität der Waren und der hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Mit einer Arbeitslosenrate von 5.2 % und einem fiskalischen Primärüberschuss von 1.5 % wurde Deutschland zu einem Stabilitätsanker in Europa. Der Überschuss selbst ist Resultat des Marktprozesses, wie der Wirtschaftsweise Volker Wieland betont (Zeit), ein Tausch Ware gegen Geld, der für beide Seiten vorteilhaft ist (Wirtschaftswoche). Für eine alternde Gesellschaft wie Deutschland sind Überschüsse notwendig und eine bestimmte indirekte Exportsubventionierung durch den Euro und den Niedriglohnsektor erleichterte den Abbau der Arbeitslosigkeit (ZEW). Es gibt kein Problem damit. Deshalb findet der Überschuss auch keine Erwähnung im Jahresgutachten des Sachverständigenrates (hier, hier und hier). Aufgabe ist nicht die Verringerung der deutschen Exporte, sondern die Fortführung der Strukturreformen der anderen EU-Staaten, damit sie ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und auf den deutschen Erfolgskurs einschwenken.

Negativ wird der deutsche Leistungsbilanzüberschuss oder, wie vorgeschlagen, das Importdefizit, vorwiegend auf internationaler Ebene thematisiert. Das Hauptargument ist, dass die Wächterrolle marktwirtschaftlicher Prinzipien nicht der Komplexität der Situation gerecht wird. Das gegenwärtige deutsche Geschäftsmodell ist nicht nachhaltig, sein Nutzen für Deutschland wie für die Welt zunehmend fragwürdig.

Der Exporterfolg ist teuer und mit wohlstandsmindernden Ressourcenfehlallokationen zugunsten der Exportindustrie und der Importsubstitutionsindustrie erkauft. Exportüberschüsse in den jetzigen Größenordnungen werden erst seit der Einführung des Euros und seiner Unterbewertung für Deutschland in Höhe von 15 – 20 % erzielt. Der parallele Kapitalexport ist nicht nur ineffektiv (Verluste liegen über 30% (Querschüsse, Huffington Post), sondern verdrängte öffentliche wie private Investitionen in Deutschland, so dass sich beispielsweise der Kapitalstock der öffentlichen Hand seit 2003 verringert. Als Folge erzielt Deutschland eine der niedrigsten Wachstumsraten (hier,  DIW Berlin study).

Während Deutschland seine eigenen Reformen mit der Agenda 2010 durch einen künstlich niedrigen Euro-Kurs finanzieren konnte, erschwert es nun die Anpassungsleistungen der anderen Länder. Deutschland auf der einen Seite und Spanien und Griechenland auf der anderen Seite sind zwei Seiten der gleichen Medaille, sagt die Washington Post. Ein Prozent höhere Infrastrukturausgaben von Deutschland und dem Rest der nordischen Länder würden den Leistungsbilanzüberschuss um 03. bis 0.4 vom BIP verringern und das BIP im Süden Europas um 0.2 – 0.3 % vergrößern (EU Studie). Bundesanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren könnten für 1.8 Prozent platziert werden und die Nachfrage in Europa ankurbeln. Sie würden eine bessere Rendite als 1,8 Prozent bringen, verweist das  Wall Street Journal. Schulden können mit Schulden bekämpft werden, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Mit dem Leistungsbilanzüberschuss reduziert Deutschland die globale Nachfrage, erhöht den Nachfragedruck und exportiert Deflation (The Economist). Wie die erste Weltwirtschaftskrise zeigt, kann dies in die Depression führen (Studie). Die EU-Kommission prüft, ob ein übermäßiges wirtschaftliches Ungleichgewicht vorliegt, Strafzahlungen in Milliardenhöhe sind formell nicht unmöglich.

Polarisierung als Indiz für einen Strategiewechsel
Politische Ansichten repräsentieren unterschiedliche Sichtweisen auf Wachstum und Besitzstandswahrung. Polarisierungen können Indizien für einen bevorstehenden Paradigmenwechsel sein. Kontroverse Sichtweisen auf wirtschaftliche Prozesse werden formuliert, diskutiert, verworfen oder finden Anklang und schließlich eine Mehrheit, mal früher, mal später. Dieser Such- und Findungsprozess läuft nur als Ausnahme linear ab. Er ist von einer Vielzahl von Ineffizienzen und Irrationalitäten geprägt, so dass sich ein roter Faden oft erst im historischen Rückblick erschließt. Deswegen haben Historiker viel theoretische Arbeit und immer Recht, während Wirtschaftswissenschaftler, die die Zukunft vorhersagen, zwar praktischen Nutzen bringen, aber nur selten Recht haben.

Es kann angenommen werden, dass sich die Orientierung einer Volkswirtschaft ändert und ein Strategiewechsel vollzieht, wenn:
1.     der neue Wachstumspfad ein deutlich höheres Wachstumspotential besitzt, und
2.     die gegenwärtige Kosten und Risiken des Wandels ausreichend gering und vorhersagbar sind.

Was sind die Chancen und Risiken für einen Paradigmenwechsel der deutschen Wirtschaft?

Aus globaler Sichtweise verläuft der Übergang zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft in allen entwickelten Staaten holprig. Der Anteil der Entwicklungs- und Schwellenländer am globalen BIP hat sich von 20 Prozent auf 50 Prozent erhöht. Der Anteil der Arbeit an der Leistungserbringung sinkt seit Jahrzehnten, eine Wiederholung eines Makrotrends von vor 100 Jahren. Das globale Zinsniveau hat sich eventuell für längere Zeit auf ein niedriges Niveau eingepegelt (Larry Summer). Zwei Interpretationen sind möglich: 1. Der Westen durchläuft eine Phase anspruchsvoller Strukturreformen. Danach differenziert sich die wirtschaftliche Entwicklung wieder. 2. Die Angleichung setzt sich fort, die Weltwirtschaft kehrt zum Zustand von vor der Industriellen Revolution zurück, als der wirtschaftliche Entwicklungsgrad zwischen den Nationen keine gravierenden Unterschiede aufwies. Diese Unbestimmtheit der globalen Ausgangslage kompliziert die Strategiebestimmung für Deutschland, dessen Wirtschaftsstruktur erstklassig bei Anwendungstechnologien ist. 


Ein weiterer, relevanter Faktor, der sich nur schwer quantifizieren lässt, ist das Erreichen von technologischen Plateaus, „The winner –takes- all“ Märkten, die über einen längeren Zeitraum ein natürliches Monopol bilden und Mitbewerber auf Abstand halten, ohne dass riskante und aufwändige Strukturreformen notwendig sind. Man denke an die "middle income gap" oder die fast absolute US-Dominanz bei neuen Technologien wie dem Internet oder die Art und Weise, wie Amazon den deutschen Buchmarkt „revolutioniert“, Wertschöpfung absorbiert und einheimische Unternehmen in Nischen drückt. Deutschland ist abgeschlagen bei neuen Schlüsseltechnologien und führend bei ihrer Anwendung, als ob Bayern München in der 2. Bundesliga spielt und doch nicht aufsteigen kann. Das  Heimatland der „hidden champions“ verfügt über ausgeprägte Spitzenpositionen im mittelständischen industriellen Bereich. Mit der hohen Nachfrage aus Schwellen- und Entwicklungsländern der letzten Jahre hat Deutschland viel historisches Glück. Ob es sich um vorübergehende Wohlfahrtsgewinne handelt oder daraus ein struktureller Wettbewerbsvorteil entstehen kann, ist unklar und hängt viel vom weiteren Verlauf der technologischen Entwicklung ab.

Europa hatte sich mit der Lissabon Strategie 2010 das Ziel gestellt, die wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu. Diese Top-Down Strategie zerbarst an den strukturellen Defiziten, die gegenwärtig sehr mühsam bereinigt werden. Diese werden in den kommenden 5 – 10 Jahre Früchte tragen und sich positiv auf die Dynamik auswirken. Die Ambitionen werden beeinflusst durch das weiter bestehende Spannungsfeld zwischen der EU und der Souveränität nationaler Staaten mit hohen wirtschaftlichen Unterschieden (1:5 in den USA, 1:8.6 in Europa zwischen besten und schwächsten Staaten, hier) sowie dem bestehenden Rückstand der wirtschaftlichen Entwicklung zu den USA. Eventuell wird Europa seinen Status als größte Wirtschaftsregion verlieren.

Der deutsche Reformzyklus verfügt über ein hohes Maß an politischer Eigendynamik. Die Wirtschaft hatte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verlorene Positionen auf den Weltmärkten zurück gewonnen, war aber mit zunehmenden gesellschaftlichen Verkrustungen konfrontiert. Von der „Hau ruck“ Rede Roman Herzogs im Jahre 1997 benötigte die Einleitung institutioneller Innovationen 6 Jahre bis die Agenda 2010 und die Hartz 4 Reformen beschlossen wurden. Gegenwärtig erntet Deutschland die Früchte dieser Reformanstrengungen. Dies bedeutet leider auch, dass während eines solchen Goldenen Zeitalters die Sensibilität für Reformen gering ist, was einen wirtschaftsstrategischen Kurswechsel erschwert. Zu berücksichtigen ist weiterhin die demographische Situation. Die Hälfte der Wähler ist über 50 Jahre alt. Dies verschiebt Präferenzen zur Bewahrung des Status Quo, was – siehe Japan - tendenziell der Deflation den Vorschub gibt und vielleicht die wenig rationelle Angst Deutschlands vor der Inflation erklärt.

Die polemisch zugespitzten Vorwürfe von Paul Krugman, dass sich die deutschen Eliten nicht der Verantwortung stellen, sind am Beispiel dieser Diskussion nicht vollständig grundlos. Deutschland profitiert substantiell von der EU Erweiterung und agiert derzeitig hilflos, seinen relevanten Beitrag für die Überwindung der EU Krisis zu benennen. Zugleich ist der interne politische Leidensdruck für einen Strategiewechsel gering und diffus und kann gut eine Argumentationslücke überstehen.

Es bleibt spannend, wie die Lernkurve weiter verläuft, wann ein Umkehrpunkt eintritt und ob sich die erwarteten Zuwächse mit einer Belebung der Binnenkonjunktur in Deutschland auch wirklich materialisieren.


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